Lauritzen, Dr. jur. Lauritz , Bundesminister für Verkehr, für Post- und Fernmeldewesen sowie für Städtebau- und Wohnungswesen (SPD)

Ralf G. JAHN: „Lauritz Lauritzen“ in: Udo Kempf und Hans-Georg Merz (Hrsg.): Kanzler und Minister 1949-1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen. Wiesbaden 2001, S. 409-413.[Öffentliche Präsentation durch den dienstältesten Bundesminister a. D. Hans-Dietrich Genscher am 20. April 2001 im Haus der Geschichte, Bonn].

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20.01.1910 Plön / Holstein , evangelisch

05.06.1980 Bad Honnef

1929

Abitur,

1929-33

Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Freiburg/Br. und Kiel;

1935

1. jur. Staatsprüfung,

1936

Promotion zum Dr. jur.,

1937

2. jur. Staatsexamen,

1937-45

Justitiar, später Hauptabteilungsleiter in der Reichsstelle „Chemie“ (Devisenbeschaffung) in Berlin;

1945

Leiter der Präsidialkanzlei des Oberpräsidiums der Provinz Schleswig-Holstein,

1946-50

Landesdirektor im Kieler Innenministerium, 

1951

Ministerialrat,

1953

Ministerialdirigent im Niedersächsischen Innenministerium;

1954-63

Oberbürgermeister von Kassel;

1955-63

Mitglied des Bezirksvorstandes der SPD Hessen-Nord,

1963-66

hessischer Minister für Justiz und Bundesangelegenheiten,

1966-67

MdL Hessen,

1966-70

Bundesvorsitzender des Kommunalpolitischen Ausschusses der SPD,

1966-72

Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau,

1968-73 und ab 1978

Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft für Städtebau und Wohnungspolitik der SPD,

1969-71

Mitglied des Landesvorstandes der SPD Schleswig-Holstein,

1970-73

Vorsitzender des Ausschusses für Wohnungspolitik und Städtebau der SPD,

1970-73

Stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD-Kommission für Bodenrechtsreform,

Juli- Nov. 1972

zugleich Bundesminister für Verkehr und Post,

1969-80

MdB (Wahlkreis Plön),

1972 -74

Bundesminister für Verkehr,

1973/75

designierter Spitzenkandidat für die schleswig-holsteinischen Landtagswahlen von 1975.


Gänzlich unerwartet kam Lauritzens Ernennung zum Bundeswohnungsbauminister nach Bildung der Großen Koalition am 1. Dezember 1966. Willy Brandt hatte ihn in Bonn mit dem Vorbehalt nominiert, daß er sich seine Zusage erst noch holen müsse. Ministerpräsident Zinn wurde ebenfalls überrascht. Lauritzen hatte als hessischer Minister für Bundesangelegenheiten stets engen Kontakt zu seinen Parteioberen Brandt, Erler und Wehner gehalten und keine übertriebenen Vorstellungen, in Wiesbaden noch etwas werden zu können. Lauritzen war 1966 der einzige Bundesminister, der dem Bundestag nicht angehörte. Er galt als Interessenvertreter der Städte und Gemeinden im Kabinett. Denn von 1954-1963 war der Verwaltungsjurist Lauritzen Oberbürgermeister in Kassel gewesen. Unter seiner Amtsführung wurde die seitdem hochverschuldete Stadt Kassel das weithin bekannte Beispiel eines modernen, großzügigen Wiederaufbaus, nicht nur im Bereich der Architektur und Verkehrsplanung, sondern gleichermaßen auf den Gebieten der zweckmäßigen und rationellen Behördenorganisation, des Polizeiwesens, der Sozialpolitik, der Wirtschaft und der Kultur (documenta). Neun Jahre Amtsführung begründeten Lauritzens Ruf als hervorragenden Praktiker der Kommunalpolitik und Kommunalverwaltung und hatten den hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn auf ihn aufmerksam gemacht. Dieser berief Lauritzen am 31. Januar 1963 in das hessische Kabinett als Minister für Justiz- und Bundesangelegenheiten. Er galt als designierter Nachfolger Zinns, verlor die Kronprinzen-Funktion 1964 und mußte von einem angekündigten Wechsel ins Finanzministerium zurücktreten, weil er in eine Steueraffäre des Fußballklubs Hessen Kassel verwickelt war. (Der Verein hatte während der Oberbürgermeisterzeit Lauritzens als gemeinnützing anerkannte Geldspenden zum Einkauf von Fußballspielern aus Gelsenkirchen [Schalke 04] verwandt). .Ein Finanzminister Lauritzen als Herr eines Verfahrens gegen den ehemaligen Oberbürgermeister Lauritzen schien Zinn undenkbar.

Um wissenschaftliche Grundlagen für seine Miet- und Eigentumspolitik zu schaffen, vergab Lauritzen als neuer Bundesminister Forschungsaufträge, gründete Arbeitskreise unter Mitwirkung prominenter Fachleute. So kreierte er z. B. einen „Arbeitskreis Städtebau“, in dem unter Vorsitz von Prof. Edgar Salin die prominentesten Architekten und Sachverständigen der BRD ehrenamtlich regelmäßig konferierten. Unter Lauritzens Ägide gelang es, die aus dem Bundeshaushalt für Bauforschungszwecke bereitgestellten Mittel von 300.000 auf 5 Millionen DM pro Jahr (1970) hochzuschreiben. Als Fernziel strebte Lauritzen die Errichtung einer „Bundesanstalt für Bauforschung“ an.

Wenige Tage vor der Bildung des Kabinetts Brandt im Herbst 1969 hatte es so ausgesehen, als werde es Lauritzens Ministerstuhl künftig nicht mehr geben. Dem Drängen vieler seiner Parteifreunde, das Wohnungsbauministerium als selbständige Behörde nicht aufzulösen, gab Brandt schließlich nach. Lauritzen sollte sich nämlich als Mitglied des Kabinetts in erster Linie um das Städtebauförderungsgesetz und um das neue Bodenrecht kümmern können. Wegen des im Bundestag gescheiterten Städtebauförderungsgesetzes wurde Lauritzen z. T. ziemlich hart kritisiert. Ihm wurde vorgeworfen, er sei zu farblos und politisch zuwenig wirksam (Spitzname „Lau-Lau“). Lauritzen blieb dann aber doch im Amt. Aus dem „Bundesminister für Wohnungswesen und Städtebau“ wurde der „Bundesminister für Städte- und Wohnungswesen“. Diese schlichte Umstellung zweier Namen des Ministeriums kennzeichnet einen entscheidenden, von Lauritzen geprägten Wechsel in der Auffassung von Wohnungs- und Städtebaupolitik: Anstelle der zahlenmäßigen Erfolgbilanzen allein des Wohnungsbaus trat das Verständnis dafür, daß der Wohnungsbau in die größere Aufgabe des Städtebaus integriert werden mußte (Formel: „Vom sozialen Wohnungsbau zum sozialen Städtebau“). Lauritzens Städtebaupolitik bleibt gekennzeichnet durch die Aussage: „Damit die Menschen sich in den Städten wohlfühlen können, müssen die Städte dem einzelnen und seiner Familie sowohl Geborgenheit in der privaten Sphäre als auch Kontakt und Gemeinschaft bringen“.

Anfang November 1969 ließ sich Lauritzen darüber hinaus für die nordrhein-westfälischen Kommunalwahlen auf Platz eins der SPD-Reserveliste für den Stadtrat von Bad Honnef setzen. Das bedeutet, daß er bei einem SPD-Sieg ehrenamtlicher Bürgermeister werden würde. Das Thema „Ämterhäufung“ brachte Lauritzen sowohl von den Jungsozialisten in Bad Honnef wie im Bundestag peinliche Fragen ein. Der gerade abgelöste Bundesinnenminister Benda (CDU) warf ihm vor, gegen das Ministergesetz zu verstoßen. Dieses Gesetz bestimmt, daß Bundesminister keine öffentliche Ehrenämter annehmen dürfen. Bis 1973 behielt Lauritzen sein Mandat als Stadtverordneter von Bad Honnef.

Eine der großen Reformleistungen Lauritzens war das neue Städtebauförderungsgesetz, dessen Entwurf er Anfang 1970 vorlegte. Im Juli 1971 wurde das Gesetz verabschiedet. Es soll eine Reform des Bodenrechts einleiten, die den Gemeinden eine sachgerechte Durchführung ihrer Planungen ermöglicht und die Bodenspekulation verhindern hilft. Innerhalb von förmlich festgelegten Sanierungs- und Entwicklungsgebieten wurde der Grundstücksverkehr genehmigungspflichtig gemacht. Der Gemeinde steht jetzt ein Grunderwerbsrecht zu den gesetzlichen Entschädigungsleistungen zu, wenn der Eigentümer nicht selbst an der Sanierung teilnehmen will. Mit Bau- und Modernisierungsgeboten kann die Gemeinde die Eigentümer zu entsprechenden Maßnahmen verpflichten. Die Interessen der Mieter sollen durch sogenannte Sozialpläne, die die Gemeinden aufzustellen haben, gewahrt werden. „Lauritzen war es, der schon frühzeitig den Weg wies von einer Stadtsanierung, die zunächst noch ihre Hauptaufgabe im Abriß sah, hin zur Erhaltung und Erneuerung. Die Städtebaupolitik von Lauritzen orientierte sich an seinen kommunalen Erfahrungen, war kommunalfreundlich und bürgernah.“ (Bundesminister Haack). Was man heute als Sanierung der Innenstadtgebiete, als Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der City und der Städte überhaupt, als Modernisierung und Verbesserung des Wohnumfeldes oder Verkehrsberuhigung nennt, war von Lauritzen vorgezeichnet. Lauritzens neues „Mieterschutzgesetz“, das den Mietern mehr Rechte und besseren Schutz bietet, machte ihn in der breiten Öffentlichkeit populär.

Nach der durch den Rücktritt von Bundeswirtschafts- und Finanzminister Karl Schiller notwendig gewordenen Regierungsumbildung wurde Lauritzen im Juli 1972 zusätzlich mit der kommissarischen Leitung des Bundesverkehrsministeriums betraut, nachdem sein Vorgänger Leber zum Bundesverteidigungsminister berufen worden war. Für 5 Monate fungierte er folglich als „Dreifachminister“ (Bundesminister für Verkehr, für Post- und Fernmeldewesen sowie für Städtebau- und Wohnungswesen). Im Dezember 1972 wurde Lauritzen nach der Bundestagswahl vom 19. November als Bundesverkehrsminister bestätigt. Denn allzu loyal und ungern bereit, sich an neue Gesichter zu gewöhnen, übernahm Brandt nahezu sein voriges Kabinett - einschließlich der „Versager“.

Lauritzens Vorschlag einer Autobahngebühr (Januar 1973) stieß auf Kritik. In seine Amtszeit fielen die spektakulären Bummelstreiks der Fluglotsen, bei deren politischer und rechtlicher Behandlung Lauritzen wenig Erfolg hatte. Umstritten war im Februar 1974 auch die Einführung einer Richtgeschwindigkeit 130 auf Autobahnen, nachdem Lauritzen zunächst die Einführung einer obligatorischen Höchstgeschwindigkeit anstelle der tatsächlich eingeführten Empfehlung befürwortet hatte. Werbekampagnen gegen Alkohol im Straßenverkehr und für Autogurte sollten Lauritzens Ruf als entschlossenen Sicherheitsminister begründen helfen. Die Ausgaben für den Fernstraßenbau wollte er spürbar schrumpfen lassen, mit der Ausnahme seiner Heimat Schleswig-Holstein natürlich, wo er die Fertigstellung neuer Fernstraßen forcierte. Statt dessen wollte er mehr Geld in den öffentlichen Nahverkehr investieren, um die Stadtkerne zu entflechten. Überdies beabsichtigte Lauritzen, weniger Innenstadt-Parkplätze zu bauen und damit die Bürger aus dem Auto in die S- oder U-Bahnen zwingen. Sein Ansehen bei Genossen und Wählern sank unter den Nullpunkt. Der Fluglotsenstreik leitete den „Sturz-Flug“ des farblosen Ministers ein.

Im Mai 1973 geriet Lauritzen dann noch ins Zwielicht, als bekannt wurde, daß er zwischen 1934 und 1938 Mitglied der Reiter-SA gewesen war. Er ging in diese Organisation, weil er seine Ausbildung beenden wollte. Als die Reiter-SA 1938 aufgelöst wurde, betätigte Lauritzen sich nicht weiter politisch. Der NSDAP hat er nicht angehört.

Auf dem Landesparteitag der schleswig-holsteinischen SPD in Heiligenhafen wurde Lauritzen im November 1973 als Willy Brandts Wunschkandidat zum SPD-Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 1975 nominiert. 146 Delegierte sprachen sich für ihn aus, 22 gegen ihn. Diese Entscheidung war vor allem bei den Jungsozialisten auf heftige Kritik gestoßen. Ein Streit mit dem Bundeswirtschaftsminister und Industriefreund Dr. Friderichs und reichliche Bundesmittel für den Straßenbau im Norden sollten Lauritzen helfen, sich als Ministerpräsident aufzubauen. Aber der Unmut über den durch den Fluglotsenstreik und das Tempolimit auf Autobahnen belasteten Bundesverkehrsminister, der sich auch im schleswig-holsteinischen Kommunalwahlkampf nicht profilieren konnte, machte sich immer mehr auch in der Parteibasis breit, bis schließlich der SPD-Landesvorstand die Ablösung von Lauritzen beschließen wollte. Dieser enthob aber durch seinen Verzicht auf die Spitzenkandidatur den SPD-Landesvorstand einer eigenen Entscheidung. Als disziplinierter Sozialdemokrat nahm Lauritzen die ihm von den jungen Intellektuellen in seiner Partei angesonnene Demütigung hin.

Willy Brandts ausgeprägter Sinn für Loyalität bis zur „Nibelungentreue“ und seine „Nachsicht mit den Schwachen“ (von Wechmar) hinderten ihn, weniger qualifizierte und blassere Minister auszuwechseln. Sein Schützling Lauritzen besaß niemals daß, was man unter einer Hausmacht versteht. Wenige Tage, nachdem Willy Brandt als Bundeskanzler zurückgetreten war, gab Lauritzen am 7. Mai 1974 auch seinen Verzicht auf eine Kandidatur bei den schleswig-holsteinischen Landtagswahlen 1975 bekannt. Eine Aussicht für den glücklosen „Buhmann“ Lauritzen in das neue, von Helmut Schmidt gebildete Kabinett aufgenommen zu werden, bestand nicht. Lauritzen blieb aber weiter Mitglied des Bundestages (zuletzt 1976 über die Landesliste Schleswig-Holstein gewählt). 1980 wollte Lauritzen nicht wieder kandidieren, starb aber vor der Bundestagswahl.

Bis zu seinem Tode war Lauritzen stets der Wohnungs- und Städtebaupolitik verbunden: Als Präsident der Hamburger „Gesellschaft für Wohnungs- und Siedlungswesen“ (GEWOS) (seit 1974), als Präsident des „Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumplanung e. V.“ (seit Juni 1977), als Mitglied des Vorstandes des „Verbandes gemeinwirtschaftlicher Unternehmen für Städtebau und Landesentwicklung e. V.“ (seit 1974) und schließlich als Vorsitzender der „Bundesarbeitsgemeinschaft für Städtebau und Wohnungspolitik der SPD“ (1968-73 und seit 1978, zuletzt 1980 wiedergewählt). In diesen Eigenschaften gestaltete er aktiv fachliche Politikberatung, half die Brücke zwischen Forschung, Praxis und Politik zu schlagen und damit die Belange der Praxis dem Gesezgeber zu verdeutlichen.

Lauritzen war immer ein „alter Sozialdemokrat mit allen alten Tugenden“ (Friedrich-Karl Fromme). „Ein hochqualifizierter Verwaltungsjurist, dem die eigene Partei zuviel aufbürdete, ein Pragmatiker, dem der innere Frohsinn immer den Weg an den Konflikten vorbei wies...Zu allem und jedem hatte er viel zu sagen, aber von Nutzen war er eigentlich nirgends“ (Bruno Bonner). „Seinem Typus und Herkommen nach eher ein Mann der Verwaltung, des höheren Dienstes, als ein phantasievoller, politisch energischer Chef, seiner Neigung nach ein Kommunalpolitiker...entwickelte Lauritzen für die Erfordernisse und Wendungen der Bundespolitik nur wenig Gespür“ (Arnulf Baring).

1970 gab Lauritzen das Buch „Tendenzen-Prognosen-Utopien“ heraus, das eine komprimierte Darstellung der städtebaulichen Diskussionenen enthält. Im selben Jahr wurde Lauritzens Buch „Demokratie und Städtebau“ veröffentlicht.

Lit.:

1.    Friedrich-Ebert-Stiftung, Sammlung Personalia, Lauritzen, Lauritz, Nr. 1778.

2.    Arnulf Baring, Machtwechsel, Die Ära Brandt-Scheel, München 1984.

3.    Hans Dieter Kloss, Gefragt: Lauritz Lauritzen, Bonn 1970.

4.    Munziger-Archiv/Internationales Biographisches Archiv, 12.07.1980 - Lieferung 28/80 - P - 10233.